Zur Nationalratswahl in Österreich
Salzburg [ENA] Über 60% der Österreicher und Österreicherinnen sind der Ansicht, dass Politiker korrupt und bestechlich sind. Noch mehr (70%) glauben, dass sich Politiker kaum um das kümmern, was die Menschen im Land denken. (Quelle: Unique Research, 2024). Der Ruf des Politikers ist also nachhaltig und schwer beschädigt. Andererseits: Wer getraut sich den Beruf des Politikers überhaupt noch zu ergreifen?
Das Ringen um Geltung – ein Zerrbild: Der Kampf nach oben, um Einfluss und Macht, kann in der Politik bisweilen lange dauern – als Gewinner werden meist Menschen gekürt, die den oft jahrelangen Weg zumindest äußerlich unbeschadet überstehen. Nicht selten helfen dabei eine blinde Akzeptanz der Parteihierarchie, illustre Netzwerke, tückische Intrigen und andere undurchsichtige Manöver, damit ein Kandidat Landtags- oder Nationalratsabgeordneter, vielleicht sogar Parteichef, Landeshauptmann, Minister oder Bundeskanzler wird. Wenn dieser endlich den ersehnten Platz am Futtertrog der Macht einnimmt, will er denselben natürlich nicht so schnell wieder verlassen.
Als Politiker in einer einflussreichen Position diskutiert man in der Folge gerne mit, welche Qualifikation es braucht, um im Land eine x-beliebige berufliche Karriere machen zu können. Bemerkenswerterweise gibt es aber nicht einmal eine Ausbildung für die Tätigkeit, die man selbst ausübt. Die „Dinge in der Stadt, im Staat“ (griech. „politikà“) lassen sich schon irgendwie bewältigen – Hauptsache, man agiert populistisch (damit die Leute das hören, was sie hören wollen), ist einigermaßen attraktiv (damit man gefällt), aalglatt (damit man imstande ist jederzeit zu entschwinden), medial omnipräsent (damit jeder weiß, wie wichtig man ist), und gut vernetzt (eine Hand wäscht bekanntlich die andere).
Dass bisweilen völlig unfähige Menschen die Karriereleiter munter emporsteigen und erst spät enttarnt werden, ist ein gut bekanntes und viel diskutiertes Phänomen in den Sozialwissenschaften. Ehrgeizige Politiker sind Mitglied in einem Bund, einer Landesgruppe, einem verschwiegenen Zirkel, einer weniger geheimnisvollen, dafür aber schlagenden Verbindungen oder in schicken Gesellschaften, wobei – und das ist der springende Punkt – diese Zugehörigkeit und eine absolute Loyalität zur Parteispitze oft die einzigen Kriterien für die Karriere darstellen. Selbstverständlich muss der Volksvertreter in der Folge die mühsam errungene Macht mit den Netzwerken und Verbindungen, die ihn hervorgebracht haben, auch teilen.
Hoimar von Ditfurth hat schon vor vielen Jahren bemerkt, dass „Politiker eine heilige Scheu davor haben, öffentlich zuzugeben, dass sie in ihren Entscheidungen nicht mehr frei sind (vielleicht gestehen sie das nicht einmal sich selbst ein).“ Das ständige Schielen auf die Erhaltung der Macht, auf die eigenen, üppig gefüllten Futtertröge lässt Politiker vielfach empfindungslos gegenüber der Wirklichkeit des gesellschaftlichen Lebens werden. Während sie am Gängelband der Partei, diskreter Lobbyisten und internationaler Syndikate als willfährige Marionetten baumeln, geben sie selbstbewusst vor, begnadete Staatsmänner zu sein.
Dem Staatsbürger und Wähler bleibt letztendlich nur mehr die seltsame Freiheit, den Gesetzen zu folgen, die er freilich nie ausdrücklich befürwortet hat, Politikern zuhören zu müssen, die er nicht gewählt, dafür aber mit reichlich Steuergeld ausgestattet hat, wobei er die Höhe der Steuern auch zu keiner Zeit (mit)bestimmt hat. Ob so der Wille des Volkes den Respekt erhält, den er gemäß der Verfassung verdient?
Geht es auch anders? Nach Max Weber („Politik als Beruf“, 1919) zeichnet sich ein Politiker durch „sachliche Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und ein distanziertes Augenmaß“ aus. Mit anderen Worten: Ein couragierter Volksvertreter benötigt ein Mindestmaß an Kompetenz, moralischer Integrität sowie die Fähigkeit zur Selbstreflexion. Werden Politiker diesem Anspruch in der Realität auch gerecht?
Ein Politiker soll als Abgesandter die Lebensrealitäten der Bürger und Bürgerinnen repräsentieren: in sozialer, regionaler und beruflicher Hinsicht. Er hat die alters- und geschlechterspezifischen Anliegen seiner Wähler und Wählerinnen zu berücksichtigen und zu vertreten – dass er dazu den regelmäßigen Kontakt mit der Bevölkerung suchen und mitunter auch harte und schwierige Diskussionen führen muss, versteht sich eigentlich von selbst. Schon allein deshalb benötigt er eine fundierte Ausbildung bzw. eine erfolgreiche berufliche Laufbahn – ein permanentes, lebensfremdes Funktionärsleben lässt ihn in der wirklichen Welt ahnungslos und naiv erscheinen.
Ein leidenschaftliches Interesse für die Gestaltung von gesellschaftlichen Institutionen, sozialen Systemen und deren Rahmenbedingungen scheint ebenfalls unbedingt notwendig zu sein: Die Frage, wie die Menschen im Einklang mit ihrer Umwelt und ressourcenschonend am besten miteinander zusammenleben, muss ihn täglich berühren und fesseln. Nur fremdes Geld auszugeben, das die Kommune / der Staat ohnehin nicht hat, ist mäßig originell und vor allem zukünftigen Generationen gegenüber verantwortungslos und fahrlässig. Und in regelmäßigen Abständen irgendeine Klientel zu bedienen, die am lautesten schreit, ist genauso unredlich.
Damit die ureigenste Aufgabe im Parlament, nämlich die kritische Prüfung von Gesetzesvorlagen und deren rechtmäßige Beschlüsse, ausgeübt werden kann, benötigt ein Volksvertreter sehr gute Kenntnisse der Legislative, Judikative und Exekutive – sowohl auf Länderebene, in Österreich und in der EU. Zudem erwarten die Wähler und Wählerinnen, dass sich die Abgeordneten zum Nationalrat (oder Bundesrat) auf ihre Beratungen gewissenhaft und verantwortungsvoll vorbereiten. In den öffentlichen Plenarsitzungen selbst erhofft sich das Volk eine respektvolle und seriöse Diskussion – schließlich geht es ja auch um ihr Steuergeld.
Kein Handwerker, LKW-Fahrer, Lehrer würde seinen Berufsstand so demolieren – keine Krankenschwester, Ärztin oder Künstlerin ihre Kolleginnen so verhöhnen und desavouieren, wie es Politiker im Parlament und in Fernsehdebatten tun. Regierungsvertreter beantworten oft keine einzige kritische Frage – viel lieber verkünden sie die größten Reformen und Einsparungen (aller Zeiten), wobei diese so gut wie nie zutreffen oder eintreten. Demgegenüber ist für die Opposition jede Regierungserklärung eine Katastrophe – man reagiert mit Aggression und Hohngelächter.
Statt eingelernten Sinnlos-Phrasen und bösartigen Kontroversen wünscht sich das Land sehnlichst Politiker, die verständlich und authentisch kommunizieren. Sie sollen sich mit den Führungskräften und Experten der einzelnen Ministerien beraten, deren Analysen ernst nehmen und nachhaltige Entscheidungen treffen. Da sich im politischen Alltag Kompromisse und Kollaborationen (Stichwort: Koalition) nicht verhindern lassen, sollten Vermittlungsangebote mit Offenheit und gegenseitiger Achtung erörtert werden.
Und die Wähler? Eine Demokratie lebt von Parteien, einem ausgeklügelten Wahlsystem – und natürlich von urteilsfähigen Wählern. Grundsätzlich wählen wir in Österreich nicht die Regierungspolitiker direkt, sondern die Liste einer beliebigen Partei. Traurig erscheint die Tatsache, dass kaum jemand aus dem Wahlvolk die Abgeordneten aus seinem Wahlkreis kennt. Theoretisch wäre der Politiker im Nationalrat frei in seinem Abstimmungsverhalten, er könnte also dem Gewissen folgen und seine Wähler vertreten. Praktisch herrscht indes ein eiserner Klubzwang – eine demokratiepolitisch bedenkliche Praxis.
Überlegenswert wäre es, Mehrheitswahlen mit gleichzeitigen Mehrpersonenwahlkreisen zu implementieren. Jeder Bürger wählt dabei genau die Anzahl der im Wahlkreis vorhandenen Kandidaten – extreme Positionen und Spaßparteien würden in diesem System wahrscheinlich nicht sehr gut abschneiden, gemäßigte und pragmatische Ideen würden hingegen ziemlich viele Anhänger finden. Oder andersrum: Kandidaten würden sich um vernünftige, zweckmäßige und mehrheitsfähige Konzepte bemühen.
Faire und freie Wahlen entscheiden in einer Demokratie immer noch über die Verteilung von Macht und Einfluss: Daher obliegt es dem Wähler, sich genau über die Parteiprogramme und die bisher geleistete Arbeit der Fraktionen zu informieren: Etwaige Fragen – welche Politiker ein offenes Ohr für die Anliegen der Bevölkerung haben, wer sich klar und deutlich zur Demokratie und Gewaltenteilung bekennt, wer sich für gesellschaftliche Themen begeistert und ernsthaft Ideen für deren Umsetzung diskutiert, wer unbestechlich und korrekt seine Arbeit als Volksvertreter ausübt, wer respektvoll und wertschätzend mit politischen Mitbewerbern umgeht – sollte sich der Wähler überlegen, bevor er den Stimmzettel ausfüllt und in die Wahlurne wirft.
Das Faktum, dass die Parteien, die vor der Wahl am meisten versprechen, auch besonders viele Stimmen bekommen, macht nicht nur Politikwissenschaftler fassungslos. Entweder vergisst das Wahlvolk sehr schnell das Gesagte oder es lässt sich ohnehin fast alles „aufschwatzen“. Wenn der enttäuschte Wähler lediglich seine Stimme abgibt, um in der Folge gegen die Regierung, die EU und vermeintliche Weltverschwörungen zu lästern, löst er demokratiepolitisch nicht wirklich ein Problem. Er ist selbst das größte Problem.