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Riten & Rituale

Verantwortlicher Autor: Herbert J. Hopfgartner Salzburg, 02.04.2023, 13:13 Uhr
Presse-Ressort von: Prof.Mag.art.DDr.phil. Hopfgartner B.A. Bericht 14536x gelesen

Salzburg [ENA] Rituale begegnen uns sowohl im Alltag im Sinne einer Gewohnheit als auch in außergewöhnlichen, mitunter feierlich gestalteten Momenten des Lebens. Letztere können als spirituell aufgeladene Ereignisse beschrieben werden, die von althergebrachten und überlieferten Regeln, verbindlichen Gesten und Handlungen, ausdrucksvollen Formulierungen sowie von einem hohen Symbolgehalt geprägt sind.

Während im Lateinischen unter dem Wort „Ritus“ ein „religiöser Brauch“ oder eine „Ordnung“ (eig. „das Geordnete“) zu verstehen ist, verweist die zugrundeliegende indogermanische Wurzel „ɑr(ә)-“ auf „fügen, passen, zusammengeben“. Das griechische „harmonia“ („Harmonie“) und der Arm (in der Grundbedeutung für „Gelenk“) dürften direkte sprachliche Nachfahren sein. Auch das altindische Wort „rta“ stammt von derselben Form ab und bezeichnet die kosmische Ordnung. Die nicht antike Bezeichnung „Hierotelestia“ wird im Griechischen mit der „feierlichen Begehung von heiligen Riten“, wörtlich mit der „Erfüllung von Heiligem“ erklärt.

„Teletourgia“ für „Ritual“ ist ebenfalls kein alter Begriff, die Bedeutung kann mit einer „Ausführung von Riten“ übersetzt werden. Der ursächliche und umfassendste Begriff für „Ritual bzw. kultische Feier“ im Altgriechischen lautet „teletē“ – vom Verb „teleein“ abstammend – für „ausführen, erfüllen“. Die „Zeremonie“ stammt vielleicht vom griechischen „kēdemonia“ („Pflege“ und „Fürsorge“) ab (vgl. dazu auch das lateinische „colere“ = „pflegen, verehren, anbeten“). Das hebräische „Teqes dati“ heißt im Grunde nichts anderes als „religiöse Zeremonie“, wobei der Ausdruck „teqes“ (oder auch „tekhes“) griechischer Herkunft zu sein scheint.

„Pulchan“ ist von der Herkunft her aramäisch und bezeichnet in der frühen jüdischen Literatur eher den Götzendienst. Es ist abgeleitet von einem Verb „palach“, das wiederum „huldigen“ bedeutet. Im verwandten Akkadischen gibt es ein verwandtes Verb „palâhu“, das „fürchten“ bedeutet, wobei schon ein gewisser Zusammenhang zu „ehrfürchtig“ gegeben ist. Bemerkenswerterweise lässt sich das althochdeutsche „fuogen“ mit „verbinden, vereinigen“ erklären – die reflexive Verwendung („sich fügen“) drückt einmal mehr aus, dass ein Einzelner sich in eine Gemeinschaft bzw. eine (höhere, transzendentale) Ordnung eingliedert.

Für die alten Griechen war ein Ritual eine heilige Zeit, die dem Weltlichen bewusst entzogen wurde. Der, der sich auf diese außergewöhnliche Zeit einließ bzw. sich in die kosmische Ordnung „einfügte“, empfand das Ritual als eine heilige und vielleicht sogar auch heilsame Zeit. Indem er die religiösen Pflichten erfüllte und ehrfürchtig den Göttern opferte, wurde die Ordnung zwischen Makro- und Mikrokosmos wieder hergestellt. Die Menschen erfuhren eine seelische Reinigung, göttliche Segnung und damit auch Heil(ung).

Desgleichen suchen heute viele Menschen in Ritualen eine Übereinstimmung mit spirituellen oder transzendenten Bereichen, wobei die am Ritus Teilnehmenden wiederum die Alltäglichkeit hinter sich lassen, um sich mit der Urkraft der Natur, dem All-Einen, dem Universum oder einer höheren Ordnung zu vereinen. In der Menschheitsgeschichte haben sich wahrscheinlich viele kultische Gepflogenheiten, Konventionen und Bräuche mit dem Ziel entwickelt, das gemeinsame Leben in der Sippe, im Dorf und in der jeweiligen Umgebung zu regeln:

Man gestaltete agroökonomisch bewusst und sinnvoll den Jahreskreis (Aussaat, Ernte), meisterte plötzliche Bedrohungen, Nöte und Krisen bzw. feierte Feste (altehrwürdige und überlieferte Zeremonien, Ahnenkulte und Begräbnisriten, Anrufungen von Gottheiten) aktiv und in einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten. Die gemeinsam vollzogenen Riten schufen Vertrauen und Übereinstimmung, wobei sich dadurch schon früh eine wichtige soziale Identität entfalten konnte.

Bestimmte Rituale benötigen „Weise“, „Eingeweihte“ oder „Auserwählte“, die mit den Göttern, der Geisterwelt, den kosmischen Gesetzen oder gewissen magischen Kulten in Verbindung stehen. Diese „Geweihten“ und „Erhabenen“ grenzen sich – mitunter auch bewusst – von der übrigen Gesellschaft ab; nur sie sind imstande ein heiliges Amt auszuüben, esoterische Geheimlehren, magische und schamanistische Rituale oder andere exklusive Bräuche zu verstehen, zu deuten und weiterzugeben.

Prinzipiell können unterschieden werden: Periodische Rituale (Sonnenwende, Erntedank, Äquinoktium, Weihnacht), lebenszyklische Rituale (Geburt und Taufe, Einschulung, Erstkommunion, Firmung, Initiationsriten, Wehrhaftmachung, Heirat, Elternschaft – so genannte „rites de passage“), ereignisbezogene Rituale (Schicksalsschläge, Tod eines Verwandten, Katastrophen…) und Interaktions-rituale (Grußrituale, kulturelle Gepflogenheiten…). Religiöse Bräuche (Bestattungsriten, Opferhandlungen…) dürften vielleicht sogar eine anthropologische Veranlagung sein – eine kollektive, performative und symbolhafte Auseinandersetzung um letzte respektive existenzielle Fragen ist vermutlich nur dem menschlichen Bewusstsein eigen.

Dem gegenüber stehen individuelle und völlig harmlose Gepflogenheiten, wie z.B. Einschlaf-, Entspannungs-, Morgen- und Feierabendrituale, die viele Menschen persönlich und ohne übertriebenen Ehrgeiz anwenden, um sich einfach wohler zu fühlen. Nicht zuletzt deshalb wird das Begreifen der Welt durch aufmerksame und bewusst gestaltete Wiederholungen einfacher und angenehmer. Auch wenn diese Gewohnheiten nicht unbedingt als spirituelle „Kulthandlungen“ zu verstehen sind (und darum nur kurz angesprochen werden), vermitteln sie gleichermaßen eine gewisse Ordnung und Sicherheit.

Rituale und Riten erfüllen unterschiedliche Funktionen: Die Kulthandlungen rhythmisieren und strukturieren das Leben, indem sie verschiedene zeitliche und soziale Abläufe (Gründungs-, Erhaltungs- und Rekonstruierungs-Rituale) periodisch wiederkehren lassen. Unterschiedliche Religionsgemeinschaften zelebrieren diese Aufeinanderfolge in ihren Messen und Gottesdiensten. Der gemeinsame Vollzug der Feier fördert den Zusammenhalt (Integration) und die gegenseitige Verbundenheit. Altbewährte und bedeutungsvolle Symbole lassen die Einförmigkeit des Alltagslebens vergessen und verweisen auf eine „höhere Ordnung“, wobei eine enge Beziehung zwischen religiösem Ritual und dem Mythos existiert:

In alten Mythen, Sagen und Legenden wird das Dasein der Menschen mit der Welt der Götter untrennbar verbunden. Nach Ernst Cassirer macht der Mythos dabei keine Unterscheidung zwischen verschiedenen Realitäten, wie z.B. Immanenz und Transzendenz oder „Vorgestelltem“ (Traum) und realer Wahrnehmung (Wacherlebnis). Zudem dürfte es keine scharfe Trennung zwischen der Sphäre des Lebens und des Todes geben. Opferrituale fungieren nicht selten als „Problemlöser“, wobei das wirkliche oder stilisierte, abstrakte Opfer als religionsgeschichtliches Phänomen ein komplexes Thema ist.

Eine Sünde erfordert Wiedergutmachung oder eine „Rekonstruktion“ einer Verbindung mit der heiligen Ordnung, die wiederum mit einer Gesetzlichkeit bzw. einer göttlichen Schöpfung verknüpft ist. Diese mitunter kollektive Transformation (Trennungsphase – Schwellenphase – Wiederangliederungsphase) ist für eine Erneuerung, Stärkung und Wandel des Individuums und seiner Stellung in der Gemeinschaft zuständig.

Morphologische Überlegungen fragen nach den besonderen Räumen und Zeiten, in denen Rituale „passieren“, sie beschreiben verschiedene performative und sinnlich erfahrbare Kulthandlungen (Narrative, Anrufungen, stilisierte Gestik und Mimik), die verwendeten, kultisch aufgeladenen (überhöhten) Gegenstände, Körperschmuck, Musikstücke und Tänze (Prozessionen). Eine Ritualsyntax erklärt die Beziehungen und die Zusammenhänge der eben beschriebenen Elemente. Die Semantik versucht das Ritual zu verstehen, indem die Symbole, die ja eine Bedeutung repräsentieren, entschlüsselt werden.

Das griechische „sýmbolon“ meint ja ursprünglich ein Erkennungszeichen, mit dem zwei Freunde oder Partner sicherstellen konnten, dass sie (oder ihre Nachkommen) einander „wiedererkennen“: Ein Gegenstand aus Ton wurde in zwei Teile gebrochen, wobei jeder der beiden ein Bruchstück erhielt. Bei einem erneuten Zusammentreffen konnte die Legitimität bzw. Freundschaft der Beteiligten überprüft werden, indem die Teile passend zusammengebracht wurden. Kraftplätze, Höhlen, Tempel und Kirchen sind mit Konzepten einer Heiligkeit, hierarchischen Strukturen (Priesterschaft) und Gemeinschaft (Volk, Gläubige) verbunden, wobei die Gegenwart Gottes eine große Rolle spielt. Das ewige Licht in den katholischen Kirchen ist ein Relikt dieses Denkens.

Militärische Rituale dienen vorwiegend einer Machtdemonstration und einer Verleugnung des Individuums – was zählt, ist einerseits Autorität und Herrschaft, anderseits die (untergebene) Masse, die gesamte Armee bzw. im übertragenen Sinn das ganze Volk. Durch verschiedene Inszenierungen der militärischen Stärke soll das Selbstbewusstsein und der Stolz einer Nation gestärkt werden. Angelobungen, Militärparaden, Marschformationen von Soldaten und eine hierarchische Befehlsgewalt sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache. Gerade in totalitären Systemen werden Rituale als Mittel der Propaganda, Agitation, der Öffentlichkeitswirkung und der Identifikation („Blut und Boden“, „Volk und Führer“…) eingesetzt.

In Demokratien ersetzen angedeutete Rituale, wie z.B. öffentlichkeitswirksame Auftritte, markige Reden sowie inszenierte „Scheinhandlungen“ echte Kulte. Pressekonferenzen werden als große, mediale Ereignisse präsentiert, wobei die auftretenden Politiker vorgeben alle Probleme lösen zu können bzw. entsprechende Handlungen setzen zu wollen, obwohl nachweislich wenig bis nichts geschieht. Pompöse, aber leere Ankündigungen, Ansagen um der Ansagen willen und ein lächerliches In-Szene-Setzen verkommen zum Selbstzweck einer Politik, der es nicht um die Lösung von wichtigen Anliegen des Gemeinwesens geht, sondern um die Selbstbeweihräucherung von vermeintlichen Volksvertretern, die um jeden Preis an der Macht und an den Futtertrögen bleiben wollen.

Rituale sind einem stetigen Wandel unterworfen: Was früher als wichtig und wesentlich gegolten hat, ist heute möglicherweise schon wieder überholt – und umgekehrt. War die Tätowierung früher vorwiegend bei Häftlingen, Seeleuten und verwegenen Abenteurern ein rituelles und abgrenzendes „Mitgliedszeichen“ („Branding“), scheint die Modifikation der Haut in unseren Tagen lediglich eine Angelegenheit der Mode zu sein. Jugendkulte erobern in Windeseile die Gesellschaft, während alteingesessene Traditionen langsam verschwinden.

Grundsätzlich dürften alle Milieus – auch zur gegenseitigen Identifikation – eigene Gesten, Rituale und Bräuche (bevorzugte Musikstile, Moden) entwickeln, allein schon, um sich von anderen Gruppen und Szenen zu unterscheiden. Zudem sorgen die Kanalisierung von Emotionen, die Vermittlung von gruppeneigenen Werten und die Wiederherstellung der sozialen Ordnung für positive Effekte bei den Beteiligten. Kleine Kinder genießen manche Rituale, Traditionen oder Zeremonien, um im manchmal hektischen Tagesablauf Sicherheit und Geborgenheit zu spüren.

Außerdem können sie die Rituale selbst mitgestalten und damit auch die Zeit ein wenig „kontrollieren“. Nicht wenige Erwachsene lehnen diese vorschnell als überholt, kindisch und naiv ab – bis sie in entscheidenden und sehr ernsten Lebenssituationen bereitwillig auf jene zurückgreifen. Zu beobachten ist das Phänomen, dass sich rationell denkende Menschen in schwierigen und bedrückenden Momenten durchaus auch „nicht verstandesgemäßen “ bzw. esoterischen Lösungsansätzen anvertrauen.

In der modernen und industrialisierten Welt können verstandesmäßige (mentale oder rationale) Welt- und Lebenserklärungen die mannigfaltigen Phänomene des Humanen möglicherweise nicht zur Gänze begreiflich machen. Es war Jean Gebser, der auf (verlorengegangene) archaische, magische und mystische Bewusstseinssphären hinwies und betonte, dass diese scheinbar längst hinter uns liegenden „Welten“ den modernen Verstandes-Menschen zu einer integralen Persönlichkeit vervollkommnen könnten.

Auch Ludwig Wittgensteins Diktum, wonach „wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind“, verweist auf diesen Umstand: Ein vernünftiger, logisch denkender und digital vernetzter Mensch ist womöglich nicht in der Lage allein mit seinem Intellekt alle Bereiche seines Seelenlebens zu begreifen.

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