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Die "Erfindung" der Popmusik

Verantwortlicher Autor: Prof. Mag. DDr. Herbert J. Hopfgartner Salzburg, 20.01.2023, 11:29 Uhr
Presse-Ressort von: Prof.Mag.art.DDr.phil. Hopfgartner B.A. Bericht 15315x gelesen

Salzburg [ENA] In Anlehnung an Augustinus' Diktum über die Zeit könnte man sagen: "Was ist also die Popmusik? Wenn mich niemand darüber fragt, so weiß ich es; wenn ich es aber jemandem auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es nicht." Noch schwieriger erscheint es, Ursprünge dieser Musik ausfindig zu machen und zu benennen. Kulturelle Strömungen beeinflussen sich meist gegenseitig und lassen sich zeitlich kaum einteilen.

Die „moderne“ Popmusik beginnt – so sind sich fast alle Experten einig – mit dem in den 1950er Jahren aufkommenden Rock ’n’ Roll. Lester William Polfus (Gibson Les Paul, 1952) und Leo Fender (Telecaster, 1950) schufen die dafür notwendigen Lead-, Rhythmus- und Bassgitarren, gleichzeitig kamen die ersten kommerziellen Röhrenverstärker auf den Markt. Nicht unwichtig erscheint auch der Umstand, dass sich die Popularität des Fernsehers in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg explosionsartig vergrößerte; so besaß um 1955 fast die Hälfte der Haushalte neben einem Radio schon einen Schwarzweißfernseher.

Als beliebtes und bevorzugtes TV-Format etablierte sich die Talkshow, wobei in diesen Sendungen auch immer wieder neue Sänger und Sängerinnen vorgestellt wurden. Jugendliche aus wohlhabenden Familien konnten sich sogar ein tragbares, kleines Transistorradio leisten und waren dadurch in der Lage, außerhalb des familiären Wohnzimmers bzw. fern von elterlichen „Zensurmaßnahmen“ ihre Musik respektive ihren bevorzugten Sender zu hören. Rock ’n’ Roll, der neue Musikstil, vielfach eine weiße Interpretation schwarzer, sinnlicher Rhythm-and-Blues-Musik, wurde als Thema eines Generationskonflikts hochstilisiert (vgl. auch die Filme „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ und „Die Saat der Gewalt“, beide 1955).

Zudem war es möglich, diese Songs – in Form von kleinen Schallplatten – käuflich zu erwerben und zu „besitzen“! (Die meisten Abspielgeräte besaßen schon Regler für unterschiedliche Plattengrößen.) Musikalische Konsumartikel wurden also innerhalb einer Peergroup zu Statussymbolen! Sittsame und bürgerliche Country-&-Western-Sänger oder unzüchtige und nonkonformistische Rock-’n’-Roll-Ikonen? – Diese Frage entzweite von nun an Familien, Eltern von ihren Kindern, Erwachsene von Jugendlichen.

Und vorher? Bevor die Vereinigten Staaten von Amerika in den Ersten Weltkrieg eintraten (1917), war New Orleans nicht nur ein Schmelztiegel vieler Kulturen, sondern auch ein wichtiger Handels- und Militärhafen. In Storyville, dem nahegelegenen Vergnügungsviertel, reihten sich Bordelle und Kneipen, in denen fleißig Klavier gespielt wurde. Seit 1898 gehörte zu jedem Etablissement ein eigener Hauspianist; der so genannte „Professor“ begrüßte musikalisch die Gäste und lud andere – meistens afroamerikanische – Jazzmusiker zum spontanen Mitspielen ein.

Schufen die vornehmlich schwarzen Pianisten mit dem Ragtime vielleicht sogar eine originäre US-amerikanische Musikrichtung? Über einen marschmäßigen Bass „zerriss“ man in der Melodie die geradlinige Zeit mit Synkopen und Off-Beat-Phrasen. Diese neue Art des Klavierspiels kam beim Publikum so gut an, dass es nach weiteren Musikstücken verlangte. Scott Joplin, ein schwarzer Musiker, verkaufte mit seinem „Maple Leaf Rag“ (1899) zum ersten Mal in der Musikgeschichte über eine Million Notenblätter.

Zu dieser Zeit stellte die Anzahl verkaufter Notenblätter einen maßgeblichen Faktor für den Erfolg eines Musikstückes dar. „The St. Louis Blues“ (1914, 165 verschiedene Aufnahmen!) und der unverwüstliche „Tiger Rag“ (1917, 136 Aufnahmen) folgten – sie wurden Evergreens und Longseller. Auch Irving Berlin sprang auf die Mode auf und komponierte 1917 „Alexander’s Ragtime Band“ – der erste weltweite Hit eroberte für Jahrzehnte den Markt! Gospels, also „good spell“ („Evangelium“ als „Gute Nachricht“), dürften – bei der Suche nach den Wurzeln der Popmusik – ebenfalls eine große Rolle spielen. Der missionarische Charakter der baptistischen und methodischen Erweckungsbewegung wurde schon früh von den schwarzen Sklaven nicht nur akzeptiert.

Die bodenständige und eher urwüchsige Art der Pastoren und nicht zuletzt die Überlieferung der Leidensgeschichte Jesu überzeugten sie. Neben dem Phänomen der „Camp Meetings“ (Großfamilien, zum Teil mit ihren Sklaven, trafen sich zu mehrtägigen Gebetsversammlungen in der freien Natur) waren es die rasant wachsenden Städte im Osten (New York, Boston, Chicago), in denen im 19. Jahrhundert religiöse Bewegungen und mit ihnen neue kirchliche Gesänge (Erweckungslieder bzw. Gospels) entstanden. Für ein neues, urbanes Proletariat, das aktiv an den Gottesdiensten teilnehmen wollte, brauchte man einfache wie hinreißende Melodien, die leicht erlernbar waren.

Aus weltlichen, populären Liedern „entlieh“ man gängige Phrasen und beliebte Wendungen und stattete sie mit gottesfürchtigen Texten aus. Populäre Balladen wurden also sowohl im kirchlichen als auch im profanen Bereich gesungen. Von „Ménestrel“ (einer Bezeichnung für mittelalterliche Spielleute) leitet sich der Begriff „Minstrel“ ab, eine spezielle Form der US-amerikanischen Unterhaltungsmusik des frühen 19. Jahrhunderts. In so genannten „Minstrel-Shows“ traten weiße, jedoch schwarz geschminkte Musiker auf und karikierten zum Gaudium des Publikums (vermeintlich primitive) Lebensweisen der unterdrückten Afroamerikaner.

Allem Anschein nach vermischten sich offen rassistische sowie amüsante, komische und politisch unbedenkliche Beiträge. Manche Komponisten schrieben Lieder, die, wie oben erwähnt, als Gospel berühmt wurden, andere wiederum wurden eben auch in diesen zweifelhaften Unterhaltungsshows verwendet. Stephen Collins Foster (1826-1864) dürfte in der Mitte des 19. Jahrhunderts der erfolgreichste Songwriter Amerikas gewesen sein. Er ist u.a. der Komponist von „Oh Susanna“ (1847, der Hymne der kalifornischen Goldgräber), „Old Folks at Home“ („Way down upon the Swanee River“, 1851), „Old black Joe“ (1853) und „My old Kentucky Home“ (1853, offizielle Hymne des US-Bundesstaates Kentucky).

Auch seine Lieder fanden den Weg in die Kirche, andere wurden in Minstrel-Shows aufgeführt, wobei Foster – aus gesellschaftlicher und politischer Hinsicht – eine integre Persönlichkeit gewesen sein dürfte. Rassistische Texte sind von ihm nicht überliefert. (Möglicherweise war Foster auch der erste Pop-Komponist: Bands wie die Beatles und die Beach Boys und Musiker wie z.B. Bob Dylan interpretierten seine Musik!) Ganz allgemein dürfte das US-amerikanische Publikum an ungewöhnlichen, kuriosen, ja exotischen Attraktionen interessiert gewesen sein, wobei – aus soziologischer und psychologischer Sicht – ein gewisses Klassendenken wahrscheinlich eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hat.

In revuehaften (und eigentlich grotesken) Shownummern wurde die indigene Bevölkerung Amerikas – wie auch eben die ehemaligen Sklaven – in stereotypen und klischeehaften Bildern zur Schau gestellt. Nicht nur das: Den Schwarzen und auch den „Rothäuten“ fühlten sich auch einfache, weiße Arbeiter überlegen. Man lachte über die scheinbar einfältige und naive Kultur der unterdrückten bzw. "minderwertigen Rassen" und vergaß das beschwerliche und gar nicht so freie eigene Leben.

Ein weiteres Detail zur Popgeschichte stellen die „Amerika-Tourneen“ europäischer Musiker und Sänger im 19. Jahrhundert dar: Während das amerikanische Publikum die Welt der indianischen Stämme und der Schwarzafrikaner von „oben“ betrachtete, war bei den europäischen Musikgruppen vielleicht sogar auch ein wenig Nostalgie bzw. eine Sehnsucht nach den Zeiten der Eltern und Großeltern dabei, die vor vielen Jahren als Auswanderer ins „Gelobte Land“ gekommen waren. Überliefert ist, dass im Jahre 1831 die „Tyrolese Minstrels“ eine sehr erfolgreiche Konzertreise durch einige amerikanischen Städte unternahmen. Die vier Sänger (der Prototyp einer Boygroup?) hatten sowohl einen „Yager-Chor“ als auch einen „Steyrischen Kuhreihen“ im Programm.

Mit Jodlern, Lederhosen und Gamsbart begeisterten sie die „Neue Welt“. Deutsche und schweizerische Gruppen, ebenfalls oft Männerquartette, folgten. Von einer „Rainer Familiy“ aus dem Zillertal ist bekannt, dass sie von 1839 bis 1843 in vielen amerikanischen Musikzentren konzertierte und ebenfalls ein begeistertes Publikum vorfand. Es darf spekuliert werden, was nun das amerikanische Publikum am meisten verzückt hat: War es die „Wildheit“ des alpinen Jodlers; waren es eventuell auch die Tanzeinlagen (Schuhplattler) und Trachten, oder vielleicht auch die mehrstimmigen Gesänge? Letztere haben wahrscheinlich auch das Barbershop-Singing inspiriert oder wenigstens beeinflusst.

Der Gedanke, dass die alpenländische Musizierpraxis die amerikanische Popmusik zumindest mitgestaltet hat, hört sich auf den ersten Blick skurril an. Bei näherer Betrachtung gewinnt die Überlegung jedoch an Charme…

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