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Der Nerd: Außenseiter oder Trendsetter?

Verantwortlicher Autor: Herbert J. Hopfgartner Salzburg, 29.03.2022, 12:05 Uhr
Presse-Ressort von: Prof.Mag.art.DDr.phil. Hopfgartner B.A. Bericht 15982x gelesen
Ein angehender Nerd?
Ein angehender Nerd?  Bild: eigene Zeichnung

Salzburg [ENA] Nerd: Substantiv, maskulin [der] – Lautschrift: nɜːd, nœːɐ̯t – engl. für „Sonderling“. Im ersten Moment bezeichnen wir damit sonderbare und schrullige Zeitgenossen, die übermäßig viel Zeit mit nicht zum Mainstream gehörenden Aktivitäten verbringen und darüber hinaus eher schüchtern wirken.

So einfach ist die Sache dann aber auch wieder nicht: Die Übersetzungsvorschläge für den Begriff „Nerd“ lauten immerhin „Streber, Sonderling, Langweiler, Fachidiot, Tüftler, Computerfreak, Außenseiter, Fachtrottel“ – vereinzelt auch – „hochintelligente, aber kontaktarme Person“. Ein komplizierter Zeitgenosse also… Etymologisch wird entweder die Abstammung von „nert“ und „nut“, also „Nuss“ für „verrückte Person“, oder die rückwärtsgewandte Schreibweise von „drunk“, also „knurd“ diskutiert. Mit letzterem Ausdruck aus der Studentensprache wird in den USA üblicherweise ein übereifriger Kommilitone bezeichnet, der nicht auf Partys geht, nichts trinkt und nur lernt. Sozial gesehen ein äußerst langweiliger Kollege…

Allen Deutungs- und Übersetzungsversuchen gleich ist eine zumeist abwertende Bedeutung. Wenigstens der Duden differenziert den Begriff und lässt in der Ausgabe aus dem Jahr 2014 mit dem Zusatz aufhorchen, dass ein „Nerd“ auch ein „sehr intelligenter, aber sozial isolierter Computerfan“ sein kann. Möglicherweise sind es einige US-amerikanische Serien, in denen fast immer stereotypische Figuren agieren, die für eine weite Verbreitung dieses Charakters sorgen. Im Gegensatz zu einem „Jock“, einem athletisch gebauten, aber nicht sonderlich intelligenten Mann, hat sich in den Filmen gelegentlich ein Nerd etabliert, der zwar äußerlich unattraktiv und neurotisch erscheint, mit speziellen Fähigkeiten aber schlussendlich zum Helden anvisiert.

Früher hat es diese Spezies wahrscheinlich ebenso gegeben: Thales von Milet war wohl einer, Archimedes vielleicht auch. Und wie sieht es heute aus? Abseits der Sitcoms („Big Bang Theory“), in denen schwächliche, tollpatschige und blasse Jung-Erwachsene bei jeder Gelegenheit in eine für sie peinliche Situation geraten, existieren Nerds höchstwahrscheinlich auch im realen Leben. Und wie die antiken Vorbilder sind sie strebsame Einzelgänger, seltsame Eigenbrötler – vielleicht sogar Koryphäen. Eine nähere Beschreibung könnte, quasi als Klischee oder Karikatur, so aussehen:

Unter Akne leidend, mit einer großen Brille und vielleicht noch einer Zahnspange trägt er ein unmodisches Hemd, das bis zum letzten Knopf geschlossen ist, dazu einen hässlichen Pullover und eine Hose, die bis hoch über die Taille reicht. Mehrheitlich männlich und mit weißer Hautfarbe scheint er mathematisch oder technisch hochbegabt bzw. sehr interessiert zu sein. Zudem ist er fähig sich lange und intensiv auf ein einzelnes Problem zu konzentrieren. Vorwiegend und mit Vergnügen hält er sich in seinem kleinen Zimmer, im Keller oder in der Garage auf, wo er an verschiedenen Computern arbeitet, Programme entwickelt, gleichzeitig die Hardware repariert und nebenbei kuriose oder wertvolle Apps ersinnt.

Möglicherweise trägt er unsensible und autistische Züge – auf jeden Fall gilt er (für seine Umgebung) als schräger Vogel, Freak oder skurriler Typ. Bis… ja bis er als Urheber einer technischen Neuerung, als Erfinder einer digitalen Innovation bekannt oder sogar berühmt wird – und unerwartet als Vorbild und Idol angesehen wird. In der Folge legt er die (unangenehme) Rolle des Außenseiters schnell ab: Aus dem ehemaligen Computerfreak und unbeholfenen, verschrobenen „Einsiedler“ ist in der Zwischenzeit ein schillernder und prominenter Visionär erwachsen, der mit viel Akribie und Risikobereitschaft vielleicht schon ein Startup-Unternehmen gegründet und nach harten Anfangsjahren möglicherweise schon eine Menge Geld verdient hat.

Im besten Fall hat er Utopien und Visionen verwirklicht sowie die technische Entwicklung revolutioniert. Mit dem Ruhm und der Anerkennung kann aber natürlich auch der Neid und die Eifersucht derer wachsen, die ihn vor Jahren noch verspottet haben. Plötzlich ranken sich Verschwörungstheorien um den sensationellen Aufstieg des ehrgeizigen Individualisten und Exzentrikers – er soll für Katastrophen und andere Schicksalsschläge verantwortlich sein. Allein sein einstiges Aussehen würde ja schon zeigen, wie absonderlich und befremdend er im Grunde sei…

Zum Ehrgeiz: Auch wenn ein Nerd wahrscheinlich sehr ehrgeizig oder strebsam ist, muss nicht jeder eifrige und fleißige Mensch zwangsläufig ein Nerd sein. Doch – was hat es eigentlich mit dem Ehrgeiz auf sich? Der „Geiz nach Ehre“ begegnet uns schon im Mittelalter (althochdeutsch „ere“ und „gite“). Ein „falscher“ Ehrgeiz wurde damals als ein unaufhörliches Streben nach Anerkennung und Ansehen interpretiert, wobei man diese „Ehre“ im Grunde gar nicht verdiente. Schon Aristoteles wies darauf hin, dass ein Zuviel an Ehrgeiz anfällig für Schmeicheleien machen würde. In der christlichen Ethik verstand man unter dem Begriff letztendlich ein arges Laster. Nach Matthäus erniedrigt Gott den Menschen, der „sich selbst erhöht“.

Für Luther war der Ehrgeiz sogar ein „subtiles Gift“ und eine „Seuche“ und damit eine der größten Sünden überhaupt – schließlich könne man nicht dem Nächsten zur Seite stehen sowie Gott dienen wollen und gleichzeitig die eigene Ehre suchen… Niccolò Machiavelli hielt den Ehrgeiz und die Habsucht für menschliche „Urleidenschaften“. Sie würden sich gegen das Wohl anderer Menschen richten und darum eine schicksalhafte Ursache für menschliche Tragödien und Katastrophen sein. In einem Staat mit starker Führung und guten Gesetzen wäre aber eine Ordnung vorhanden, in der eine Zerstörung „von Innen“ vermieden werden könne. Damit wäre man auch in der Lage einen äußeren Feind zu bekämpfen.

„Ehrsucht ist die Schwäche der Menschen, wegen der man auf sie durch ihre Meinung […] Einfluss haben kann. […] Sie ist nicht Ehrliebe, eine Hochschätzung, die der Mensch von anderen wegen seines inneren (moralischen) Wertes erwarten darf, sondern Bestreben nach Ehrenruf, wo es am Schein genug ist.“ [Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 1798] Immanuel Kant ging es um die Heuchelei, wenn er bemerkt, dass nicht „innere Werte“ oder das Interesse um die Sache selbst im Vordergrund der „Ehrsucht“ stehe, sondern lediglich der „Schein“ eines guten Rufs. Der „Eigensinn“ des Menschen – also „Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht“ – wäre nach Kant für die „Ungeselligkeit“ des Menschen verantwortlich, die sich gegen die Gemeinschaft richtet.

Max Scheler beschreibt den „Streber“ als den vorherrschenden Typ der modernen „Konkurrenzgesellschaft“. Als Antrieb würde ein „zum Ressentiment verfestigter Neid“ und ein „zum Habitus gewordener Wetteifer“ gehören. Nach Scheler wäre ihm die Sache egal, letztendlich würde es ihm nur um ein „Mehr-Sein“ und ein „Mehr-Gelten“ gehen. Als Fazit mag gelten: Ob nun ein Nerd jemand ist, der sich als akribisch arbeitender Individualist intellektuellen oder technischen Aktivitäten widmet und vielleicht gleichzeitig (oder deswegen?) ein stilloser oder sozial unbeholfener Mensch ist, kann abschließend nicht geklärt werden.

Zu viele Vorurteile ranken sich um diesen Menschentyp, den es vielleicht schon ewig gegeben hat und immer geben wird. Möglicherweise verdanken wir den Nerds auch allerlei Entwicklungen und Entdeckungen, die der Gesellschaft weitergeholfen haben. Dann wäre ihre Einstellung gar nicht egoistisch, wie vielfach angenommen. Letztlich ist der Neid der anderen, die eben nicht so weit gekommen sind und nicht so viel Geld verdient haben wie ein erfolgreicher Nerd, der beste und ehrlichste Beweis für die Anerkennung seiner Leistungen!

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